Sind "Ossis" eine ethnische Gruppe i.Seite d. AGG?

Dr Franke Ghostwriter
Sind "Ossis" eine ethnische Gruppe i.S.d. AGG?

Morgen wird vor dem ArbG Stuttgart folgender Fall verhandelt.

Eine Frau hatte sich bei einem Handwerksbetrieb um Arbeit beworben, erhielt jedoch eine Absage. Der AG sandte die Bewerbungsunterlagen zurück - incl. dem Lebenslauf, auf dem er handschriftlich vermerkt hatte: "Ossi (-)".

Die abgelehnte Bewerberin klagt nun gegen den AG - vermutlich auf Schadensersatz - und beruft sich auf das AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz), nach dem niemand aufgrund seiner ethnischen Herkunft benachteiligt werden darf.

Der AG wird wohl einwenden, dass die Bewerberin aufgrund ihrer Qualifikation abgelehnt worden sei. Dabei wird wohl auch argumentiert werden, dass die in der DDR erworbene Qualifikation als nicht ausreichend angesehen wurde, was dann zur Ablehnung der Bewerberin geführt habe.

Kann man also "Ossis" als ethnische Gruppe ansehen - oder den "Ossis" zumindest einen entsprechenden Schutz gewähren?

Abgesehen davon bleibt natürlich die Frage, ob die Ablehnung nach dem Vorbringen des AG gerechtfertigt war.

Quelle: ZDF-Mittagsmagazin
 
Ich fürchte, dass Ossis und Wessis vereint keine gerichtliche Entscheidung zur Frage erhalten werden, ob die Angehörige der Bevölkerung der DDR eine eigene "ethnische Gruppe" gebildet haben.

Auf diese Frage käme es gar nicht an - und es würde über sie dann auch nicht entschieden werden, wenn die Ablehnung schon aus anderen, objektiven Gründen gerechtfertigt war. Eine Ablehnung, die sich darauf stützt, dass jemand nicht die erforderliche Qualifikation für die ausgeschriebene Stelle hat, würde diese Voraussetzung erfüllen. Damit wäre nur zu fragen, ob mit der in der DDR absolvierten Ausbildung eine ausreichende Qualifikation erworben wurde.
 
Die Schutznorm verwendet die Begriffe "Rasse oder ethnische Herkunft". Es geht um rassistische Diskriminierungen, so der sechste Erwägungsgrund der RL 2000/43/EG.

Anhaltspunkte zur Begriffsauslegung könnte geben das internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierungen (7. 3. 1966 BGBl. 1969 II, Seite 961 ), das abstellt auf
- Hautfarbe,
- Abstammung
- und ethnischen Ursprung.

"Ossis" sind wie "Wessis" weiß, sie stammen von ihren gesamtdeutschen Vorfahren ab, deren ethnischer Ursprung bei den germanischen Stämmen zu suchen ist. Insofern ist es ganz offensichtlich verfehlt, "Ossis" und "Wessis" verschiedenen Ethnien zuordnen zu wollen.

Der klagende Anwalt spricht von starker Gruppenidentität, gemeinsamen Bräuchen und Werten. M.E. sind die in diesen Kriterien möglicherweise vorhandenen Unterschiede zwischen "Ossis" und "Wessis" zu marginal, als dass sie die "Ossis" zu einer eigenen Ethnie machen könnten. Die Gemeinsamkeiten hinsichtlich der selben Kriterien dürften - schon wegen der gemeinsamen Geschichte der Gesamtdeutschen, die deutlich länger währt als die "nur" 40jährige Trennung - erheblich größer und zahlreicher sein, als die sie trennenden Unterschiede. (Die Ethnie nur an wenigen konkreten Merkmalen wie der "Jugendweihe" festzumachen ist doch angesichts des riesigen gemeinsamen deutschen und europäischen Kulturschatzes geradezu lächerlich).

Insofern denke ich, dass der Anwalt nicht, wie er in der Presse verkündet, das Gericht wird überzeugen können. Aber einen saftigen Werbeeffekt wird das ganze am Ende schon gehabt haben.
 
Bleibt die Frage, ob die Klägerin wirklich das begehrt, was sie vom Gericht zugesprochen bekommen kann.

Vermutlich will sie Geld, sie stützt das Begehren aber auf eine Norm, in deren Schutzbereich sie nicht fällt (s.o., § 1 AGG missbilligt menschenverachtenden Rassismus, nicht aber Verletzungen durch banale ost-west-deutsche Missverständnisse). Der Gesetzgeber hat auch sonst keine Normen geschaffen, die "Ossis" vor Diskriminierungen durch "Wessis" schützen, so wie z.B. Schwarze durch das AGG vor Diskriminierungen durch Rassisten geschützt werden.

Zudem könnte das Vorbringen als nicht schlüssig entlarvt werden, wenn der beklagte AG darlegt, dass er für die Buchhalterstelle einen qualifizierten Bilanzbuchhalter suchte, die Klägerin aber gar nicht entsprechend qualifiziert ist. (Meine Mutmassungen stützen sich auf diverse Presseberichte).

Am Ende wird die Klägerin wohl noch mehr verletzt sein.

Interessant zu wissen wäre, ob sich Kl. und Bekl. jemals zuvor gesehen / gesprochen haben, bevor sie morgen im Gerichtssaal aufeinander treffen. Möglicherweise hätte bei so einer Gelegenheit der Bekl. sich rechtfertigen können, inwiefern er tatsächlich die Kl. als "Ossi" zu diskreditieren beabsichtigte oder er vielleicht andere Gründe für die Ablehnung hatte (die er nicht handschriftlich auf dem zurückgesandten Lebenslauf vermerkt hatte). Vielleicht würde er sich sogar entschuldigen für die Notiz, womit der Kl. möglicherweise weitaus mehr Genugtuung zuteil würde, als durch die begehrte Zahlung, die sie nur mit Zweifeln behaftet zugesprochen bekommt. Vielleicht würde aber auch der Bekl. feststellen, dass die Kl. doch qualifizierter ist, als es aus den (wohl etwas schlampigen Bewerbungsunterlagen) hervorgeht. Im glücklichsten Fall könnten sich beide darauf einigen, dass die Kl. beim Bekl. ein Praktikum absolviert, aus dem sich dann womöglich eine Beschäftigungsmöglichkeit auftut.

Vielleicht sollten die Anwälte daher mal in Erwägung ziehen, sich mit Mediationstechniken zu beschäftigen 😉 Nach dem Beschreiten des Klagewegs dürften derartige kreative Lösungsmöglichkeiten aber wohl eher nicht mehr möglich sein.
 
Banal ist die Begriffsbestimmung indes nicht.

In der Presse liest man zum Fall die Argumente, Ossis seien eine ethnische Gruppe, weil sie eine gemeinsame Geschichte, mit der Jugendweihe einen eigenen Brauch und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit hätten.

Sind dann auch die Münchner eine eigene Ethnie? Immerhin haben die Münchner eine Jahrhunderte zurück reichende Geschichte, mit dem Oktoberfest, der "Wies'n", überhaupt mit der gesamten Münchner Wirtshauskultur weisen sie auch eigene Gebräuche auf, die sich sonst so in Europa nicht finden und das Gefühl der echten Münchner für ihre Eigenheit und Zusammengehörigkeit ist schon zum Sprichwort geworden: "Mir san' mir!".

Wird jede Gruppe zur Ethnie, die sich selbst so sehen mag (Selbstzuweisung)? Das würde Rechtsnationalen gefallen: NPD-Parteimitglieder dürften fortan bei der Stellenvergabe im öffentlichen Dienst aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit nicht mehr diskriminiert werden, gehören sie nach ihrem Selbstverständnis doch der reinen, völkisch-deutschen, germanisches Rasse an, die innerhalb der deutschen Nation aufgrund ihrer reinen Ahnenlinie eine besondere Stellung habe *kotz*

Kann die Ethnieneigenschaft verwehrt werden, indem eine andere Gruppe der Gruppe, die den Ethnienschutz für sich in Anspruch nehmen möchte, diese Eigenschaft abspricht (Fremdzuweisung)? So würden sich Bewohner des autonomen Gebiets Tibet - Tibeter, Han, Naxi, Uiguren, Mongolen u.a. - wohl als ethnische Gruppe bezeichnen, der Minderheitenschutz zukommen muss. Chinesen werden vielleicht zu einer anderen Einschätzung gelangen.

Ethnische Gruppen können nicht nur nach ihrer Geschichte, sondern auch nach einer gemeinsamen Zukunftsperspektive definiert sein. So dürften sich auf dem Balkan Serben und Kroaten, nach ihrer Vergangenheit beurteilt, weniger unterscheiden, als wenn man die Abgrenzung nach der von den Ethnien für sich angestrebten eigenständig nationalen Zukunft vornimmt.

Ethnologen knüpfen die Gemeinsamkeiten einer Ethnie etwa an Tradition, Kleidung, Sprache, Religion oder Lebensmittel. So typisiert die Angehörigen der türkischen Ethnie in Deutschland vielleicht, dass sie auch in der Fremde weiter ihre Traditionen pflegen, in der Moschee zu besonderen Anlässen eine bestimmte Festkleidung tragen, ihre türkische Muttersprache pflegen und aufgrund ihrer islamischen Religion kein Schweinefleisch essen.

Die ossische Ethnie ist auch im Stuttgarter Raum ohne weiteres an ihrer typischen (Bade-) Kleidung zu erkennen (welche meist fehlt), sie ernährt sich von Spreewaldgurken, verwendet eine eigentümliche Sprache, hat größtenteils keine Religion und pflegt die Tradition der Jugendweihe. *prust*

Offen bleibt, an welche der vielen Kriterien nun das AGG-Gesetz anknüpft. Sollen die Grenzen des Schutzbereichs mehr von der Minderheitenperspektive her gezogen werden - oder muss ein Ethnologe nach wissenschaftlichen Kriterien per Sachverständigengutachten zur Frage Stellung nehmen, ob eine Gruppe Ethnienschutz für sich in Anspruch nehmen kann?

Jedenfalls ist die Kl. ja gar kein Ossi mehr. Nach den o.a. streng wissenschaftlichen Kriterien kommt es v.a. auch auf die Ernährung an. Die Kl. kocht lt. ihrem Anwalt gerne Linsen mit Spätzle. Sie ist also eindeutig ein Wessi (schwäbischer Unterart).
 
So - die Ossis sind keine eigene ethnische Gruppe, urteilte das Gericht.

(Quelle: ZDF heute).

Mich freut das, denn damit gehören die Ossis zur gesamtdeutschen Ethnie, für die sie eine positive Bereicherung sind 🙂.
 
anderer Ansicht: Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung

Herr Prantl ist der Ansicht, das Urteil sei falsch, weil zwar das AGG von "ethnischer" Herkunft spreche, das Grundgesetz dagegen in Art. 3 III gebiete, dass niemand "wegen seiner Heimat und Herkunft" benachteiligt werden darf. Über die Drittwirkung der Grundrechte müsse dies auch auf den Anspruch gegen einen privaten Arbeitgeber ausstrahlen.

Ist diese Ansicht mit juristischen Argumenten zu untermauern?

Fehlt es schlicht am Anspruch? Es gibt nichts, auf das das GG ausstrahlen könnte. Deshalb spricht man auch von der mittelbaren Wirkung der Grundrechte. Grundrechte können keinen direkten Anspruch zwischen Privaten begründen. Nur wenn ein solcher Anspruch von einem einfachen Gesetz abgeleitet werden kann, dann müssen bei der Entscheidung darüber, ob der Anspruch besteht, an geeigneter Stelle (Auslegung) auch die Grundrechte beachtet werden. Es existiert aber nun mal kein einfachgesetzlicher Anspruch, der etwa eine einfache Diskriminierung mit einem Schadensersatzanspruch belegen würde. Es gibt nur die Vorschrift im AGG, die eben explizit von der "ethnischen Herkunft" spricht. Dieser Begriff darf aber nicht weiter ausgelegt werden, als die Grenzen des Wortlauts reichen. Der Gesetzgeber hat nicht den Begriff "Herkunft" verwendet, sondern den Begriff "ethnische Herkunft", der einen engeren, kleineren Bedeutungskreis hat.

Auf (zunächst) nichtjuristischer Ebene stimme ich Herrn Prantl zu. Ist es gerecht, dass jemand wegen seiner Herkunft diskriminiert werden dürfte, nicht jedoch wegen seiner ethnischen Herkunft? Was macht die Ablehnung eines Stellenbewerbers, nur weil er aus Aachen stammt, besser, als die Ablehnung eines anderer Bewerbers, der aus Holland stammt, nämlich aus dem von Aachen nur wenige Kilometer entfernten Kerkrade? Der eine könnte vom Chef abgelehnt werden, weil dieser keine Aachener mag. Der andere dürfte nicht (mit der Begründung) abgelehnt werden, dass der Chef keine Holländer mag. Denn die Holländer bilden vermutlich eine eigene Ethnie. - Erklärbar ist diese Ungleichheit damit, dass das AGG eine europäische Richtlinie umsetzt. Diese Richtlinie richtet sich an dieser Stelle gegen Rassismus, schützt aber nicht die einfache Herkunft. Der deutsche Gesetzgeber hat nur das umgesetzt, was die Richtlinie vorschreibt. Dabei hat er aber - siehe sogleich - möglicherweise sein eigenes Grundgesetz nicht genügend beachtet:

Könnte das AGG gegen die Verfassung verstossen, wenn es entgegen der Wertung des Grundgesetzes in Art 3 III die ethnische Herkunft gegenüber der einfachen Herkunft privilegiert?

Nach dieser Argumentation hätte das Gericht die Frage nach der verfassungskonformen Auslegung des Begriffs "ethnische Herkunft" dem Verfassungsgericht zur Entscheidung vorlegen können. Käme das Verfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass § 1 AGG verfassungskonform so auszulegen ist, dass neben der ethnischen auch die einfach Herkunft in den Schutzbereich fällt, dann wären die Gerichte künftig an diese Auslegung gebunden. Die "Ossi-Buchhalterin" und jeder andere wegen seiner (auch einfachen) Herkunft diskriminierte könnten sich dann grundsätzlich auf einen Zahlungsanspruch aus dem AGG berufen.

Bei allem bleibt aber die Frage, wie praktikabel § 1 AGG ist. Nahezu jedes Anknüpfen an ein diskriminierendes Merkmal wird entweder nicht zu beweisen sein, oder aber - spätestens im Prozess - dadurch entkräftet werden, dass sich ein anderer Grund finden lässt, auf dem eine Ablehnung beruht. Und sei es der Rechtschreibfehler im Anschreiben. Und wer könnte es einem Arbeitgeber verdenken, dass er bei hundert Bewerbungen nur solche in die nähere Auswahl zieht, die das Anschreiben eben ohne Rechtschreibfehler hinbekommen haben ... .
 
Dass es eine gesamtdeutsche Ethnie gebe, glaube ich kaum.

Wo sind die blonden blauäugigen Kerls? Im Norden.

Haben KuK nichts hinterlassen? Doch, natürlich.

Den Zug der Pietisten kann man mit etwas Mühe noch gut erkennen.

Deutschland ist ein Vielvölkerstaat.

Ich glaube, dass sich die EU mal wieder eine gut gemeinte, aber nicht gut gemachte Regelung ausgedacht hat.
 
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